Schau-Imkern im Hauptbahnhof

Silberstift fährt mit der U-Bahn, gemütlich ein Buch lesend. Da steigt eine Frau ein, hastig, setzt sich neben ihn, spricht in ihr Handy. Sie redet laut, fordernd, ungeduldig. Schmale Augen, schmale Brille, unauffällige Kleidung, vielleicht Ende dreissig, trägt einen Rucksack. Gleich muss sie wieder aussteigen, steht schon in der Schlange vor der Tür, man merkt, wie sie sich zurückhalten muss, um die Leute davor nicht zu drängeln. Alles an ihr ist voller Ungeduld, voller Willen. Als die Tür sich endlich öffnet, strömt sie mit den anderen heraus, vielleicht ein bisschen schneller, den einen oder anderen kann sie überholen, aber dennoch, sie wird ein Teilchen des grossen Menschenstroms, der sich da durch Tunnel-Röhren, über Rolltreppen und Gänge bewegt, vielleicht ein besonders aktives Teilchen, mag sein.

Auch Silberstift schiebt sich hinaus, eines von den eher trägeren Teilchen, und denkt sich: so viel Energie, so viel Wollen. Jeder von uns hier denkt an sein Ziel, deshalb bewegen wir uns. Doch wir alle zusammen, als grosses Ganzes, bilden auch eine Bewegung, aber wohin? Wir wissen das nicht, und fühlen nur manchmal, so wie jetzt gerade, dass das so ist.

Wäre dieser riesige Großstadt-U-Bahnhof ein gläsernes Gebäude, in das man hineinsehen könnte, so wie die Schau-Objekte im Naturkunde-Museum, etwa ein transparenter Bienenstock oder ein durchsichtiges Herz, nur eben sehr viel grösser, dann sähe ein Betrachter uns durch diese Tunnel-Adern strömen wie kleine Blutkörperchen durch die Adern eines Organismus. Er sähe ein lebendiges Organ vor sich, Teil eines riesigen Lebewesens, und unser Weg, von dem wir doch meinen, wir hätten ihn aus freier Entscheidung gewählt, käme ihm vorbestimmt, statistisch vorhersagbar vor.

Das Ganze, was sich da bildet – es bildet sich ja etwas, seit einigen tausend Jahren, das unterscheidet uns doch von den Bienen und den Ameisen, dass unsere Einheiten immer grösser werden und immer besser vernetzt, erst physisch durch Wege, Strassen, Schiffe, Flugrouten, dann informell durch Kabel, Funk, Satellit, Internet – was wird das werden?

Das ist unstrittig, dass sich da etwas entwickelt, aber: was wird das? Ist das irgendwann einmal fertig? Wird es sich selbst zerstören, wozu es ja viele Anzeichen gibt, oder wird es stabil bleiben (das muss es erst noch werden, im Moment ist es nur stabil, wenn es wächst – wie eine Gestalt, dir nur dann nicht fällt, wenn sie weiter geht) – wie wird dieser Golem, der sich aus uns und mit unsrer Hilfe bildet, am Ende aussehen? Und, vor allem, was will er? Denn er will etwas, sonst würde er nicht so zielstrebig wachsen und so unglaublich schnell immer klüger und fähiger werden  –  aber was will er? Was wird er tun?

Zeit

Es ist ein Paradox, dass der, der die Zeit achtet, sich nicht um sie kümmert.

Dem jungen Menschen, der doch noch so viel Lebenszeit vor sich hat, muss alles schnell gehen. Er hat nie genug Zeit, obgleich er doch noch so viel davon hat. Der Alte dagegen, der doch eigentlich knausern müsste, ist nachlässig-freigiebig mit ihr.
Ob das eine Übung ist? Ein meditativer Dienst im Stile der Absichtslosigkeit? „Zeit“ weiterlesen

Schokopudding

Silberstift sitzt vor einem einem Plastikbecher mit Schokopudding, unten der braune Pudding, darüber die weisse Sahne, und liest aus Langeweile den Aufdruck. Und sieht, daß gar keine Schokolade drin ist. Das ist eine gelierende Verdickungsmssse mit Zucker, Aroma- und Farbstoffen. Es sieht so ähnlich aus wie ein Schokopudding und schmeckt auch so ähnlich, aber es ist keiner. „Schokopudding“ weiterlesen

Last der Freiheit

Immer wenn ein Übel abgeschüttelt ist, kommt schon das nächste hervor. Hat man endlich die Freiheit errungen, muss man nun ihre Last tragen, das ist die Last der Entscheidung. Kann man endlich selbst bestimmen, wer man sein möchte – muss man nun wissen und wählen, wer man sein möchte. Und dabei ertragen, wer man ist. Ohne zu wissen, warum man so ist.

Oder ahnt man es doch? „Last der Freiheit“ weiterlesen

Auf einer Wolke

Als Kind stellte Silberstift sich vor, dass alles, was er erlebte, gar nicht wirklich sei, sondern in einem grossen magischen Buch mit bewegten und klingenden Bildern sich abspiele. Er sah sich in dieser Phantasie im Himmel auf einem weichen weißgrauen Wölkchen sitzen, zwischen zwei flauschigen Engeln, die ihm dieses wunderbare Buch zum Betrachten hinhielten – ganz versunken ist er in diese lebendigen Bilder und hält das, was er sich da anschaut, für sein gerade geschehendes Leben. „Auf einer Wolke“ weiterlesen