Schokopudding

Silberstift sitzt vor einem einem Plastikbecher mit Schokopudding, unten der braune Pudding, darüber die weisse Sahne, und liest aus Langeweile den Aufdruck. Und sieht, daß gar keine Schokolade drin ist. Das ist eine gelierende Verdickungsmssse mit Zucker, Aroma- und Farbstoffen. Es sieht so ähnlich aus wie ein Schokopudding und schmeckt auch so ähnlich, aber es ist keiner.

Zuvor hat er sich mit seiner Liebsten über diese Sendungen unterhalten, die von Auswanderern, Partner-Suchenden oder Schuldeneintreibern handeln und davon gesprochen, dass diese „Dokus“ gar nicht echt sind, sondern erfunden, und darum auch „scripted reality“ heissen. Alles, was da passiert, ist ausgedacht und inszeniert, und die scheinbar so authentischen Personen kommen aus einer Casting-Agentur und sind eine spezielle Art Schauspieler.

Während des Gesprächs wollte Silberstift sich etwas notieren und hat dazu einen dieser Bleistifte benutzt, die am Ende einen Radiergummi haben. Praktisch, dachte er, als er etwas falsch geschrieben hat, da kannst du es gleich ausradieren. Aber der Radierer war gar kein richtiger Radierer, er sah nur so aus, war aber ein hartes Stück Plastik, mit dem man so gut wie nicht radieren konnte.

Einen Bleistift mit Radierer zu verkaufen, der nicht radiert; eine Dokumentation zu machen, die komplett erfunden, also gar keine Doku, sondern Fiktion ist; einen Schokopudding anzubieten, in dem keine Schokolade ist  –  was ist das?

Das ist Betrug. Ganz einfach.

Das Spezielle daran  –  und das, was Silberstift hier zum Schreiben bringt  –  ist aber nicht, daß so etwas endemisch geworden ist. Sondern, daß es gesellschaftsfähig geworden ist. Betrüger, die schlechte Ware für gute verkaufen, hat’s schon immer gegeben. Aber jemand, der so produzierte, sah sich selbst nicht als geachteten, seriösen Geschäftsmann an, sondern eben  –  als Betrüger. Das auch deshalb, weil alle anderen ihn so ansahen. Es war die Ausnahme, und es galt als das, was es ja auch ist: als unanständig.

Das scheint sich geändert zu haben. Agieren an den Grenzen von Recht und Moral gehört zum Geschäft, verdient sogar Anerkennung. Jeder weiss beispielsweise, dass Industrieprodukte auf Verschleiss hin konstruiert werden, im Idealfall geht ein Gerät am Tag nach dem Auslaufen der Garantie kaputt; es gibt dazu eigene Ingenieure, die versuchen, das ziemlich genau so hinbekommen. Das ist bekannt, regt aber keinen mehr auf. Man würde es wohl ebenso machen als Produzent, die Konkurrenz macht’s ja auch, es gäbe also gar keine andere Wahl. Mit einem Wort: Es ist normal geworden, unanständig zu sein.

Silberstift glaubt, daß sich da etwas selbständig gemacht hat. Auch, daß etwas verloren zu gehen droht. Und das sind nicht nur die Schokopuddings mit echter Schokolade.